Vom Tintenfisch zum Cliffhanger
Letztens träumte ich von einem Tintenfisch. Ich war Praktikantin in einer kleinen Agentur und ging in den lichtdurchfluteten Besprechungsraum, wo ein Meeting stattfand. Der Chef gestikulierte mit heftigem Kopfzucken in meine Richtung. Ich sollte wohl nicht teilnehmen. In dem Moment klingelte es an der Tür, ich ging hin und öffnete, ein Typ vom Lieferservice stand da, reichte mir eine Tüte und verschwand wieder. Verdutzt schlurfte ich zum Kühlschrank und legte die Tüte gedankenverloren ins Fach. Erst auf dem Rückweg zu meinem Schreibtisch fiel mir auf, dass die Tüte sich bewegte, nachdem ich sie abgelegt hatte.
Bei einem Cliffhanger muss es nicht immer um Leben und Tod gehen. Manchmal reicht ein Tütenwackeln im Kühlschrank. Der Cliffhanger ist eine Technik zur Spannungssteigerung. Aus Film und Fernsehen ist sie jedem bekannt. Wer „Game of Thrones“, „The Walking Dead“ oder einfach tägliche Soaps schaut, kennt dieses Gefühl sehr gut, das nachhallt, wenn die Sendung schon vorbei ist. Ist sie nun tot oder nicht? Aus der Situation kann sie sich doch niemals befreien. Er wird doch jetzt nicht fremdgehen, er hat doch ewige Treue geschworen.
Was im Film funktioniert, ist auch für Texte gut. Egal, ob in Geschichten, mehrteiligen Büchern, Artikeln oder Blogposts – mit dem Cliffhanger unterbrichst du die Erzählung an einer spannenden Stelle. Du erzählst etwas nicht sofort zu Ende, schiebst einen anderen Erzählstrang dazwischen oder wirfst eine Frage auf, die du erst im nächsten Absatz beantwortest. So erzeugst du Spannung von Kapitel zu Kapitel, von Band zu Band, von Absatz zu Absatz, vom Teaser zum Text. Aber Vorsicht: zu plumpe Cliffhanger langweilen schnell. Deine Leserin freut sich über etwas Raffinesse. Zu häufig eingesetzte Cliffhanger strengen an. Dein Leser möchte nicht permanent den Atem anhalten. Und geht es um sachliche Information, stehen Klarheit und schnelle Antworten über den Stunts in den Klippen.
Wortwörtlich ist der Cliffhanger ein Klippenhänger. Als Bezeichnung für ein spannungserzeugendes Element etablierte er sich nach 1873. Da ließ Thomas Hardy seinen Protagonisten Henry Knight in den Steilhängen über dem Bristol Kanal hängen und die Leser mussten mehrere Wochen warten, um zu erfahren, ob das Grasbüschel halten würde oder Knight abstürzt. Knight war einer der Hauptpersonen in Hardys Roman „A Pair of Blue Eyes“, der vor seiner eigentlichen Veröffentlichung als Serie in einer monatlichen Zeitschrift abgedruckt wurde. Anderthalb Jahrhunderte später kommt Hardys Cliffhanger noch immer zum Einsatz.
Ach ja, in der Tüte im Kühlschrank in meinem Traum war übrigens ein lebender Tintenfisch. Was der wiederum mit Morgenseiten zu tun hat und wofür die gut sind, erzähle ich morgen.
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